Vor etlichen Jahren machte ich beim IPE (Institut für Potentialentfaltung) die Ausbildung zum Kinder- und Jugendcoach. Ich dachte mir „Wennschon, dennschon“ und buchte das längere Ausbildungsmodell, obwohl ich nicht herausfinden konnte, was im letzten Ausbildungsmodul noch zusätzlich unterrichtet wurde.
Ganz gespannt und voller Vorfreude kam ich also zum dritten Modul meiner Ausbildung und erfuhr: „Jetzt geht es um die Reflexintegration.“ Aha, keine Ahnung, was es damit auf sich hat. Da ich von Natur aus neugierig bin, hörte ich sehr interessiert zu und war sehr schnell begeistert von all den Dingen, die ich da lernte, auch deshalb, weil es eine Methode ist, die für Kinder und Erwachsene gleichermaßen anwendbar ist.
Wie ein Reflex richtig für Ärger sorgen kann
Einem Kursteilnehmer fiel ein, wie er in der Schule, als er sich wütend zu seinem Sitznachbarn umdrehte, diesem einen Stift ins Gesicht piekte. Er bekam großen Ärger. Dabei war er sich ganz sicher, dass er das nicht gemacht hatte, sondern es ihm einfach passiert war.
In der Ausbildung hatte er ein großes „Aha“-Erlebnis. Früher hatte ihm niemand geglaubt, dass er das nicht getan hatte. Nun als Erwachsener verstand er, dass er es mit einem sogenannten persistierenden Reflex zu tun hatte und wirklich nichts dafür konnte. Seine Erleichterung darüber war auch nach so vielen Jahren groß.
Was ist ein Reflex?
Tatsächlich ist das Wort Reflex für diese komplexen Bewegungsabläufe wissenschaftlich nicht mehr korrekt. Da aber die meisten Menschen eine Vorstellung davon haben, was das Wort Reflex bedeutet, werde ich in diesem Text weiterhin diese Bezeichnung nutzen.
Reflex bedeutet, auf einen bestimmten Auslöser reagiert der Körper auf immer die gleiche Weise:
Etwas fliegt auf mein Auge zu – ich schließe mein Auge und kann es nicht verhindern. Jemand schlägt mit einem kleinen Hämmerchen auf mein Knie und mein Unterschenkel bewegt sich nach vorn und auch das kann ich nicht verhindern. Diese Reflexe bleiben uns ein Leben lang erhalten.
Die frühkindlichen Reflexe
Zum ersten Mal hörte ich, dass es noch mehr frühkindliche Reflexe gibt außer dem Moro-Reflex und dem Babinski-Reflex. Diese waren mir in den Vorsorgeuntersuchungen meiner Kinder begegnet.
Vorher hatte ich auch keine Ahnung, wozu diese frühkindlichen Reflexe gut sind, dass man sie alle nur für eine gewisse Zeit haben sollte und welche Folgen es haben kann, wenn sie nicht rechtzeitig integriert werden.
Die sogenannten frühkindlichen Reflexe, die deshalb so heißen, weil sie nur in dieser frühen Phase des Lebens vorhanden sein sollten, entstehen etwa ab der 6. Schwangerschaftswoche. Später, wenn sie nicht mehr benötigt werden, wird die reflexhafte Reaktion gehemmt.
Frühkindliche Reflexe als Fitnesstrainer
Nach der Geburt sind die frühkindlichen Reflexe so etwas wie die Personaltrainer der Kinder. Natürlich kommen die Kinder mit allen Muskeln auf die Welt. Die Muskeln haben jedoch noch gar keine Kraft. Damit sich die Muskeln entwickeln können, hat sich die Natur dieses geniale System der frühkindlichen Reflexe ausgedacht.
Durch diese unwillkürlichen Bewegungen trainieren die Babys ihre Muskeln, den ganzen Tag lang! So werden sie immer stärker und können schließlich als erstes ihren Kopf alleine tragen.
Ohne frühkindliche Reflexe keine Aufrichtung
Dann geht es weiter mit gezieltem Greifen, sich umdrehen, sitzen, krabbeln, stehen und laufen. Und all das wäre ohne den inneren Personaltrainer nicht möglich! Die frühkindlichen Reflexe haben also eine sehr komplexe Aufgabe zu erfüllen.
Weil die Natur genial ist, sieht sie vor, dass das Auslösen der Reflexe gehemmt wird, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Gesteuert wird das Ganze durch das Stammhirn, also den ältesten Gehirnteil.
Störungen im natürlichen Ablauf
Immer wieder kommt es vor, dass die Hemmung der Reflexe nur unvollständig ist. Hierfür könnte unter anderem Stress ein Auslöser sein oder langes Liegen müssen in der Schwangerschaft. Es kann auch sein, dass ein Unfall die Reflexe reaktiviert. Wenn das geschieht, kann es zu allen möglichen Störungen kommen.
Hier nur einige Beispiele:
- Kinder reagieren sehr empfindlich auf Geräusche, Licht oder Berührung
- Kinder sind sehr ängstlich
- Verschiedene Probleme beim Schreiben: z. B. Verkrampfte Stifthaltung, zu starkes aufdrücken, Zähne zusammen beißen beim Schreiben
- Gleichgewichtsprobleme
- Schlechte Raumorientierung
- Wissen kann gut mündlich abgefragt werden, schriftlich geht es einfach nicht
- Unorganisiert und vergesslich sein
- Kinder reden sehr sehr viel
- Schwierigkeiten einen Ball zu fangen
- Schwierigkeiten schwimmen zu lernen
- Schwierigkeiten eine Schleife zu binden
- Kinder können nicht still sitzen
- Sehr langsames arbeiten und schnelle Ermüdung
- Leicht ablenkbar sein und / oder unkonzentriert
- Sich in eine Fantasiewelt flüchten
Was sind persistierende (verharrende) Reflexe?
So nennt man die Reflexe, die nicht oder nicht vollständig gehemmt wurden. In diesem Fall entwickeln wir nach und nach Ausgleichstechniken. Diese sind für den Körper sehr anstrengend. Er kämpft die ganze Zeit gegen eine unwillkürliche Bewegung an. Dadurch entstehen Verspannungen. Im Alter wird dann der Körper müde gegen die Reflextätigkeit anzuarbeiten und so kann es sein, dass die Störungen aus der Kindheit wieder sichtbar werden.
Es braucht einige Zeit, bis die Ausgleichstechniken perfektioniert werden. Deshalb sieht man bei Kindern die störenden Auswirkungen der persistierenden Reflexe noch besser als bei den Erwachsenen.
Falsche Schlüsse, die durch persistierende Reflexe gezogen werden
Da sich ein persistierender Reflex nicht vollständig ausgleichen lässt, kann dies dazu führen, dass wir falsche Schlussfolgerungen ziehen:
„Im Schreiben bin ich nicht gut.“, oder „Schwimmen (Fahrrad fahren) ist einfach nichts für mich.“ sind dann vielleicht Aussagen über uns selbst, die sich auf einen nicht integrierten Reflex zurückführen lassen.
Unser Körper nimmt wahr, dass die Ausgleichstechniken ihn anstrengen und möchte deshalb verhindern, dass er sie anwenden muss. Deshalb vermeiden wir Tätigkeiten, die uns anstrengend erscheinen.
Durch das Integrieren der Reflexe kann sich Spaß und Freude an den vorher abgelehnten Aktivitäten einstellen oder es kann sein, dass wir erstmals den Eindruck gewinnen, dass wir es können!
Die nachträgliche Integration persistierender Reflexe
Die gute Nachricht ist, dass sich diese persistierenden Reflexe zu jedem Zeitpunkt im Leben nachträglich integrieren lassen! Wir arbeiten mit der RIT-Reflexintegration nach Sieber und Paasch (Heute: Paasch Institut). Zunächst ist ein Fragebogen auszufüllen, in dem wir uns schon mal einen Überblick über die Themen der Kinder (oder Erwachsenen) verschaffen. Nach einem Gespräch kann dann die Integration begonnen werden.
Ablauf der Integration
Einmal im Monat treffen wir uns zu einer Sitzung. Das Treffen dauert ca. eine Stunde und findet 6-12 Mal statt. In dieser Sitzung wird getestet, wie der Stand der Integration ist und welcher Reflex als nächstes integriert wird. Dazu gibt es dann jeweils neue Bewegungsübungen. Diese Übungen sollten dann möglichst täglich zu Hause ausgeführt werden. Dafür braucht man etwa 10 Minuten täglich.
Art der Übungen
Im ersten Übungszyklus handelt es sich um passive Übungen. Für etwa vier Wochen führen Sie also die Übungen mit ihrem Kind aus. Voraussichtlich ab der fünften Woche handelt es sich um aktive Übungen. Nun kann ihr Kind auch alleine üben, wenn es das möchte. Natürlich kann es auch hier sinnvoll sein, diese Übungen mit Ihrem Kind gemeinsam auszuführen oder wenigstens einfach dabei zu sein.
Die meisten Kinder entdecken recht bald, dass ihnen die Übungen guttun und sind deshalb bereit, sie täglich zu machen. Oft wird berichtet, dass die Kinder die Übungen sogar einfordern. In der Einzelarbeit wird ganz genau auf die Bedürfnisse des Kindes eingegangen.
RIT in der Gruppe
Es ist auch möglich, die Übungen in einer Kita-Gruppe oder Grundschulklasse gemeinschaftlich zu üben. Dazu gibt es ein ganz eigenes Konzept. Es kommt dann jemand regelmäßig in die Einrichtung, um zuerst einmal bestimmte Tests mit den Kindern auszuführen. Dabei wird geschaut, welche Reflexe bei den Kindern aktiv sind.
Später gibt es auch hier verschiedene Übungen, die dann die Erzieher oder Lehrer mit den Kindern regelmäßig täglich ausführen. Am Ende des gesamten Übungszyklus wird noch einmal getestet. Dadurch werden Entwicklungen (auch für die Kinder) sichtbar gemacht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass auch in diesem Modell eine Integration der Reflexe stattfindet und einige Störungen verbessert werden oder vollständig verschwunden sein können.